| Erasmus+

Entdeckungen und Begegnungen in Allenstein – mit Erasmus+ auf Spurensuche in Ermland und Masuren

Die Flüge für die Erasmus-Plus-Mobilität ECHOSET in Polen waren bereits gebucht, als zwei Partnerschulen die Verschiebung des Projektes beantragten. Kurz entschlossen wurde aus den vorhandenen Buchungen ein Wochenendprogramm erstellt, das Einblick in Kultur und Geschichte des südlichen Ostpreußens geben sowie aufschlussreiche und spannende Begegnungen vor Ort bereithalten sollte.

Direkt nach der Ankunft am Flughafen Schiemanen (Szymany) bei Ortelsburg (Szczytno) fuhr die Gruppe bestehend aus Stella Musall, Tina Beimann, Alisa Schatzki (Q1), Frau Bleyer-Heck und Herrn Zauner zum Ort des ehemaligen Tannenberg-Nationaldenkmals bei Hohenstein (Olsztynek), das an die Schacht bei Tannenberg (1914) im Ersten Weltkrieg erinnert hatte – ein Ereignis, das noch am Tag zuvor im Geschichtsunterricht der Stufe thematisiert worden war und 1917 zur Benennung der Hindenburgstraße in Süchteln geführt hatte. Der greise Generalfeldmarschall, der mit seinem Ruf als Befreier Ostpreußens bis ins Amt des Reichspräsidenten gelangte, war in einem eigenen Mausoleum im Tannenberg-Nationaldenkmal beerdigt worden. Die Natur hatte sich das Gelände in den vergangenen Jahrzenten zurückgeholt. Auf die historische Stätte machten jedoch mehrere Informationstafeln aufmerksam.

In Hohenstein besichtigten die Teilnehmer außerdem das ostpreußische Freilichtmuseum, das schon zu deutscher Zeit bestand und Exponate und Gebäude unterschiedlicher Art aus der gesamten Provinz zeigte. So fanden wir unter anderem auch die typisch baltischen Grabzeichen vor, die wir bereits im Memelland auf der Kurischen Nehrung während der Erasmus-Plus-Mobilität in Litauen gesehen hatten. In einer Dorfschule hing ein Bild Kaiser Wilhelms II. an der Wand. Mit Mühlen, einem Dorfplatz, einer Kirche, einem Pfarrhaus und landwirtschaftlichen Gebäuden aus vergangenen Jahrhunderten wurde uns der ländliche Charakter Ostpreußens aufgezeigt.

Im Anschluss fuhr die Gruppe nach Allenstein (Olsztyn), früher Hauptort des gleichnamigen Regierungsbezirkes und heute Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren (Warmia i Mazury). Unser Ziel war das Haus Kopernikus, der Sitz der Allensteiner Gesellschaft Deutscher Minderheit (AGDM), wo wir unsere Zimmer bezogen und von Dawid Kazanski und dem Zeitzeugen Otto Tuschinski empfangen wurden. Im Versammlungssaal erfuhren wir einiges über die Anliegen und Aktivitäten der deutschen Minderheit in Allenstein und im südlichen Ostpreußen. Auch die diskriminierenden Maßnahmen der aktuellen polnischen Regierung waren Thema. Einseitig wurden nur der deutschen Minderheit der muttersprachliche Unterricht von drei auf eine Stunde wöchentlich gekürzt. Inzwischen hat der Verband der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen (VdG) Beschwerde gegen die Entscheidung des polnischen Bildungsministers Czarnek bei der Europäischen Kommission eingelegt. Die Relevanz von Minderheitenrechten in der Europäischen Union wurde uns hier exemplarisch vor Augen geführt. Herr Tuschinski berichtete als Zeitzeuge über den Einfall der Sowjets und die polnische Besetzung Allensteins sowie über seine Erfahrungen in der Nachkriegszeit.

Domherr André Schmeier, Seelsorger der katholischen Kirche für die deutsche Minderheit im südlichen Ostpreußen, war kurzfristig an Corona erkrankt, sodass der geplante deutschsprachige Gottesdienst in Jomendorf (Jaroty) nicht stattfinden konnte. Im Land des Stauffenberg-Attentats wäre der Domherr freundlicherweise bereit gewesen, uns auch über den kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus im katholischen Bistum Ermland sowie die deutschsprachige Gemeindearbeit im südlichen Ostpreußen seit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/90 zu referieren. Da diese Programmpunkte so jedoch nicht umgesetzt werden konnten, besuchte die Gruppe stattdessen die vom Deutschen Orden errichtete Burg Allenstein, die später dem ermländischen Domkapitel zugehörig war und seit 1921 das Museum für Ermland und Masuren beherbergt. Aufbauend auf den Unterrichtsinhalten der EF erfuhren die Schüler hier, welche Aufgaben der Deutsche Orden nach den Kreuzzügen ins Heilige Land im Land der baltischen Prußen, der ostpreußischen Ureinwohner, übernommen hatte. Im Innenhof der Burg waren eine prußische Babe und ein deutsch-polnischer Grenzstein zu sehen, der in Folge des Versailler Vertrages von 1919 gesetzt worden war.

Mit Nikolaus Kopernikus, der 1516 das Amt als Domherr-Verwalter in der Burg übernahm, und dem von ihm beschriebenen heliozentrischen Weltbild beschäftigte sich die Gruppe innerhalb und außerhalb des Gebäudes. Unterhalb der Burg an der Alle gelegen versinnbildlichte eine Kopernikus-Büste beispielhaft die Geschichte des Landes. Die polnischen Eroberer hatten das deutsche Denkmal in diesem Fall nicht zerstört, jedoch die deutsche Gedenktafel entfernt und kurzerhand den Sockel umgedreht, sodass auf dessen Rückseite, die sich nun vorne befindet, ein neuer polnischer Text eingraviert werden konnte. Die Stelle, an der die ursprüngliche Tafel angebracht war, ist noch deutlich zu erkennen.

Das Mendelsohnhaus, der Sitz der Stiftung und Kulturgemeinschaft „Borussia“, war das nächste Ziel im Programm. Hier empfing uns die Präsidentin der Stiftung, Kornelia Kurowska, die zufällig mit demselben Flugzeug nach einem Termin in Nordrhein-Westfalen von Dortmund nach Allenstein zurückgeflogen war. Die Stiftung trägt die latinisierte Variante des Namens der alten deutschen Provinz, hat ihr Zentrum in einem Gebäude, das zum jüdisch-deutschen Erbe der Stadt gehört und vermittelt die Kultur der Region in Zusammenarbeit mit Partnern aus allen an ihrer Geschichte beteiligten Nationen und darüber hinaus. Frau Bleyer-Heck erkannte und formulierte spontan vielfache potentielle Möglichkeiten künftiger Zusammenarbeit, zumal die neuen Erasmus-Plus-Richtlinien Kooperationen mit Nichtregierungsorganisationen nahelegen.

Im Anschluss an diese positive und informative Begegnung führte ein Rundgang unter anderem durch die Altstadt zur Jakobikirche, der Konkathedrale des Erzbistums Ermland, vom Alten zum Neuen Rathaus vorbei am Hohen Tor, zum Marschallamt, dem Gebäude der alten Bezirksregierung, und dem aktuell kontrovers diskutierten, im Volksmund „Galgen“ genannten und geschichtsklitternden sowjetischen „Befreiungsdenkmal“,  vorbei an der Herz-Jesu-Kirche und zum Treudank-Theater, das von der preußischen Treudank-Stiftung in Erinnerung an den überwältigenden deutschen Sieg in der Volksabstimmung im südlichen Ostpreußen von 1920 errichtet worden war. Am Abend spazierte die Gruppe noch zum Abschluss des Tages an den Stadtstrand am Okullsee.

Auf dem Rückweg zum Flughafen hatten wir dann bei Sonnenschein die Möglichkeit, den Ort Passenheim (Pasym) im Kreis Ortelsburg zu besuchen, um dort einen weiteren Eindruck vom „Land der dunklen Wälder und kristall‘nen Seen“ zu gewinnen.  Der Blick über den Kalbensee mutete idyllisch an. In Passenheim befindet sich die Partnergemeinde der Evangelischen Kirchengemeinde Mönchengladbach-Rheydt.

Alle Beteiligten, sowohl Schüler als auch Lehrer, hatten familiäre Wurzeln im Osten. Die von Flucht und Vertreibung geprägte Region bot somit auch exemplarisch Einblicke in Aspekte der eigenen Familiengeschichte, zumal Stella Musall gerade ihre Facharbeit über die Flucht ihres Großvaters aus Schlesien geschrieben hatte. Die ukrainischen Flüchtlinge am Neuen Rathaus und die Hilfsgüter im Mendelsohnhaus führten offen vor Augen, dass die Thematik leider nicht an Aktualität verloren hatte. Der gegenwärtige Konflikt schlug sich auch an einem anderen Ort in der Stadt optisch nieder: Wer genau hinsah, konnte bemerken, dass der Wegweiser am Hohen Tor, der die geographischen Entfernungen zu den Partnerstädten Allensteins angab, eine Lücke aufwies. Das Schild in Richtung der heute zu Russland gehörenden, ehemaligen ostpreußischen Hauptstadt Königsberg (Kaliningrad) war entfernt worden.